Campus 07 – eine Baustellenbesichtigung am Graz Center of Physics
Februar 2024
So eine Baustelle kann schon furchterregend sein. Wie hoch war die Vorklinik? Zehn, fünfzehn, zwanzig Stockwerke? Keine Ahnung – und das, obwohl ich jeden Tag daran vorbeigehe. Noch steht sie ja. „Fürsorglich“ könnte man diesen Abbruch beinahe nennen. Gerade kommen alle Kleinteile weg, wobei „klein“ relativ ist. Auch das könnten die clevere Plakatwände außen herum verkünden. Denn hier spreche ich von so Dingen wie Fenstern, Regenrinnen, Bodenbelägen, Außenverkleidungen. Auf dem entstandenen Platz: Mülltrennung vom Feinsten. Blech. Holz. Betonschutt. Alles sauber geschlichtet. Immer tiefere Einblicke tun sich dem neugierigen Außenstehenden auf: Die Vorklinik wird erst seziert, bevor sie endgültig stirbt.
Eigentlich mag ich schon nicht mehr hinsehen. So viele Gebäudeleichen in dieser Stadt, so viele leerstehende Hüllen, wo früher einmal vertraute Geschäfte und Lokale waren. Nicht, dass die Vorklinik ein Schmuckstück war. Doch täglich auf dem Weg zur Arbeit dieses Betonskelett, das mich anstarrt mit seinen gähnend leeren Fenstern, während die Technologie es auseinandernimmt – da kann einem schon ein wenig grauen.
Wann das bei mir in Faszination umgeschlagen hat, ich weiß es nicht. Auch nicht, was mich geritten hat, eines Abends über eine dieser Plakatwände zu klettern. Vielleicht meinte ich, die Vorklinik wolle mir noch etwas sagen. Oder ich wollte mich überzeugen, dass es sich doch um nichts weiter handelt, als eine Baustelle, eine ganz normale wie jede andere auch.
Beides ein Trugschluss. Gesagt hat nichts und niemand etwas. Gestolpert bin ich. Wenig überraschend, bei allem, was da herumliegt. Umso überraschender dafür der Ort, wo ich wieder aufgestanden bin. Ein winziger Raum mit einem Bankomaten. Und Glastüren…
Raus da.
Das ist mein erster verwirrter Impuls. Die automatischen Türen springen auf, Gott sei Dank, auch nach achtzehn Uhr noch… Wobei, hatte es nicht gerade gedämmert? Auf einmal ist helllichter Tag. Und die Platanen rechts von mir stehen voll im Laub…
Moment. Ich wende mich in alle Richtungen, blicke über den Universitätsplatz: Pflastersteine wie immer, darauf die Radabstellplätze, das altehrwürdige Hauptgebäude sowieso unverändert. Selbst die Bushaltestellen am gewohnten Ort.
Dann holen die Gedanken langsam auf. Einen Bankomaten hat es innerhalb der Vorklinik schon seit Jahren nicht mehr gegeben. Die Platanen, deren Wurzeln den Gehsteig der Harrachgasse aufwölben… die wurden schon längst geschlägert. Und überhaupt ist da eine Riesenbaustelle auf einmal abgängig! Endlich drehe mich komplett um. Und da ist sie, die Vorklinik. Unansehnlich, aber zweifelsohne ganz.
Kurz fühle ich mich wie erschlagen, orientierungslos, halb gelähmt. Wie ist das alles möglich? Ist es überhaupt… wahr? Ich gehe in die Knie, drücke meine Hand gegen den Gehsteig, bis es beinahe weh tut, bis ich den warmen Asphalt riechen kann. In meinen Träumen rieche ich nie etwas...
Ich blicke zu den Türen, die sich hinter mir wieder geschlossen haben. Natürlich könnte ich sofort zurück. Und wenn es nicht funktioniert? Bei dem Gedanken dreht sich auf einmal die gesamte Umgebung, analog zu meinem Magen. Atmen. Nicht daran denken. Erst einmal umsehen.
Deswegen setze ich einen ersten Schritt nach vorne. Als würde ich auf Glatteis gehen. Und dann noch einen und noch einen, die Universitätsstraße hinunter. Bald gehe ich am Allemannenhaus vorbei. Die Spuren der Farb-Pellets kommen mir bekannt vor, aber sind die Stellen noch dieselben wie gestern?
Ich lasse diese Frage hinter mir, nur um Ecke Zinzendorfgasse auf die Antwort zu stoßen. Denn da ist keine Bäckerei, die einen mit einem pfiffigen Spruch auf dem Aushängeschild hereinbittet. Da ist überhaupt kein Geschäft – nur eine komplett verstaubte Auslage mit medizinischen Utensilien.
Ich schaue hinüber zur „Posaune“. Die scheint sich wiederum überhaupt nicht verändert zu haben, Tür und Rahmen immer noch rauchig-braun. Nur die Gehsteigkante, die ist doch seither eingeebnet worden… Eine Frau mit riesiger Sonnenbrille rennt fast in mich hinein. Sie mustert mich irritiert, aus gutem Grund. Denn ich starre auf ihr knallrotes Nokia, mit dem sie gerade telefoniert, als hätte ich so etwas noch nie gesehen. Ich tue hurtig einen Schritt zur Seite, um ihr auszuweichen und werde fast vom 39er Bus erfasst, der in den zerfurchten Sonnenfelsplatz einfährt.
Eigentlich muss ich es nicht tun. Ich muss nicht raufgehen, links an der Mensa vorbei (auch sie unverändert), denn ich kann es mir doch denken, oder? Wie das ÖH-Gebäude aussehen wird? Diese komplett verwaschene, dreckige Ockerfarbe… Ich gehe trotzdem.
In dem Moment, wo ich das Gebäude so antreffe, genau wie ich es erwartet habe, möchte mein Magen wieder Karussell spielen und mein Herz am liebsten gleich mitnehmen.
Ich habe die ÖH im Kopf, wie sie jetzt aussieht. Komplett renoviert, cremefarben, mit diesem modernen Glasbau davor. Und doch kann ich die alte Version hier nicht wegblinzeln, sosehr ich es versuche. Ich könnte auch noch zur Bibliothek hinüberschauen, um ganz sicherzugehen… Doch einstweilen muss ich fleißig atmen, um nicht umzukippen. Alles, alles, was in der Zeit seither passiert ist, hier am Campus, in Graz, weltweit… Mit einem Mal ist es, als wäre es einfach ungeschehen gemacht worden. Als hätte auch mein eigenes Leben seither nicht stattgefunden.
Ich brauche etwas zu trinken. Auf zittrigen Beinen gehe ich zurück zur „Posaune“, bestelle mir eine Limonade. Zuvor bin ich zumindest soweit präsent, meine gesammelten seltenen 2-Euro-Münzen nach frühen Jahreszahlen zu durchsuchen. Dass ich dem Kellner mit der Igel-Gel-Frisur nicht mehr als eine dieser Münzen auszuhändigen brauche, bekomme ich nur am Rande mit.
Mit der Kohlensäure im ersten Schluck brennen aber gleich die nächsten Gedanken mit, alle durcheinander: Ich kenne hier niemanden, aber das hätte auch anders kommen. Die Chancen stehen gut, dass ich sogar in einer Zeit unterwegs bin, in der ich mich selbst als Studentin auf diesem Campus antreffen könnte. Ich muss echt „raus“ hier. Hoffentlich auf demselben Weg, auf dem ich hierhergekommen bin. Weil ich gerade wieder Panik schieben will, sucht sich mein Gehirn eine mindere Sorge aus: Ist es denn ratsam, Limo von vor zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahren im Bauch schwimmen zu haben? Ich könnte schwören, das Zeug schmeckt komisch... Und dann blitzt sie kurz hervor, die Neugierde: Könnte ich nicht noch ein bisschen bleiben? Mich noch ein wenig umsehen…?
*
Februar 2024
Die Baustelle schreitet voran, die Schuttberge wachsen. Riesenhafte Baumaschinen bewegen sich geschickt über das Gelände. Mettalteile fliegen vom Rohbau herunter, scheinbar leicht und aerodynamisch, bis man den Krach vernimmt, mit dem sie am Boden aufschlagen. Ich bin nicht die Einzige, die öfter stehenbleibt, um einfach nur zu beobachten, was da passiert.
Ich frage mich, ob ich mit meiner Theorie genauso wenig allein bin: Dass da noch mehr auseinandergenommen wird, als bloße Materie. Dass da Löcher eingerissen werden in… ja, was? Das berühmte Raum-Zeit-Kontinuum? Ich kann es nicht sagen, trotz Physikstudiums mittlerweile, trotz der unmöglichen Suche nach Antworten. Vielleicht sollte ich zu einer dieser Infoveranstaltungen im Uni Café schauen. Mal fragen: Sagt, macht ihr euch nicht auch Sorgen um die eine oder andere Delle im Raum-Zeit-Gefüge? Ich meine, habt ihr euch die gewaltige Größe dieser Baumaschinen angeschaut? Die sind doch mindestens imstande, ein Wurmloch zu bohren…!
Nicht witzig, eigentlich. Gab es noch andere Betroffene? Mir ist jedenfalls niemand bekannt.
So bleibt es bei dem Gedanken, wie bei so vielen Impulsen in den letzten Jahren. Ein wenig Kapital habe ich aus meinem vorauswissenden Dasein geschlagen, ein wenig Torte in einer Konditorei in der Sporgasse gegessen. Festgestellt, dass auch sie komisch schmeckt. Sehr schnell ging es nur mehr ums Durchhalten. Für die Chance, einer anderen Version von mir diese Runde Radikalkur gegen Nostalgie zu ersparen und doch noch mit der Zeit zu gehen. Nichts habe ich verändert, nirgends eingegriffen, schon gar nicht in mein eigenes Leben. Ich habe mich nicht getraut. Bis heute.
Zumindest sollte es „heute“ sein. Ich habe nachgerechnet. Hundertmal, tausendmal. Zur Sicherheit komme ich sogar jeden Tag hierher, an diese wüste Baustelle, im Parkraumkontrolleurs-Outfit. Heute werde ich – muss ich – mich selbst davon abhalten, diese Plakatwand zu erklimmen. Was dann aus „mir“ wird? Mit ein bisschen Glück muss ich mir darum keine Sorgen mehr machen.